Weltretten für Fortgeschrittene
Die gute Nachricht zuerst: 2016 war ein vergleichsweise gutes Jahr für den Planeten. Zumindest dann, wenn man den CO2-Ausstoß als Maßstab nimmt. Zum dritten Mal in Folge hat die Menschheit nicht noch mehr klimaschädliches Treibhausgas in die Atmosphäre gejagt als im Jahr zuvor. Seit 4. November des Vorjahres gilt zudem das Klimaabkommen von Paris, in dem die meisten Staaten versprechen, alles zu tun, um die Temperatur auf der Erde bei maximal 2 °C über dem vorindustriellen Niveau zu stabilisieren – und den Klimawandel damit unter Kontrolle zu halten.
Dekarbonisierung als Muss
Die schlechte Nachricht: Läuft alles weiter wie bisher, wird das Ziel klar verfehlt. Nur eine radikale Dekarbonisierung, also der weitgehende Verzicht auf fossile Brennstoffe wie Kohle, Öl oder Gas, kann das noch ändern. Das haben auch Politiker erkannt. 45 kleinere Länder haben bereits angekündigt, in absehbarer Zeit auf fossile Brennstoffe zu verzichten. Auch die großen Industrienationen versprechen, sich zumindest ein Stück weit von den alten Energieträgern zu verabschieden. Aber wie genau kann das glücken? Und was bringt es mit sich, wenn Sonne, Wind und Wasser plötzlich im Alleingang den Energiehunger der Welt stillen sollen? Wird das Leben teurer? Müssen wir auf gewohnte Sicherheiten und Komfort verzichten? Oder sollten wir uns stattdessen eher sorgen, weil in Amerika ein Mann zum Präsidenten gewählt wurde, der den Klimawandel als „Erfindung der Chinesen“ abtut und droht, den Pariser Klimapakt wieder zu kippen?
Die Energiebranche ist gefordert. Eines ist klar: Die größten Umwälzungen werden auf den Energiesektor zukommen. Immer noch gewinnt die Branche weltweit 65 % der Energie durch das Verbrennen fossiler Brennstoffe und stößt so fast zwei Drittel der gesamten CO2-Emissionen aus. Die Energiezukunft gehört aber den erneuerbaren Energien“, sagt VERBUND-Chef Wolfgang Anzengruber. Selbst eine Versorgung mit 100 % Strom aus der Kraft von Wasser, Wind und Sonne hält er für machbar. Für den Sprung in die dekarbonisierte Welt reicht es aber nicht aus, nur Energie anders zu erzeugen. Wir werden uns auch anders fortbewegen, anders einkaufen, bauen, wohnen und heizen müssen als bisher. „Was in Paris getan wurde, ist nicht genug“, warnt auch Christoph Frei, Generalsekretar des World Energy Council. Selbst wenn alle Staatschefs von Peking bis Washington ihre Klimaversprechen hielten, sei nur ein Drittel geschafft, sagt er. Zudem müsste mehr als die Hälfte der bekannten Reserven an Kohle, Öl und Gas in der Erde bleiben, um im Kampf gegen den Klimawandel eine Chance zu haben.
Unsicherheitsfaktor Trump
Die Realität sieht anders aus: Kohle erlebt eine weltweite Renaissance, selbst das Energiewendeland Deutschland setzt wieder auf den billigen, aber schmutzigen Energieträger. Der neue US-Präsident Donald Trump ist ohnedies erklärter Freund der Fossilen. Droht das Klimaprojekt also an ihm zu scheitern? Nicht unbedingt, ist Wolfgang Anzengruber überzeugt. „Die USA haben das Abkommen in Paris unterzeichnet“, sagt er. „Es mag noch Menschen und vielleicht auch Politiker geben, die den Klimawandel leugnen. Entscheidend ist, dass wir das Thema nicht nur als ökologisches, sondern vor allem auch als ökonomisches Problem verstehen und angehen.“ Der Unsicherheitsfaktor Trump werde überschätzt, stimmt Christoph Frei bei. „Eines hat Paris geschafft: die Innovation in den Fokus zu rücken.“ Einzelne Innovationsinitiativen hatten „eine Eigendynamik entwickelt, die weit über das hinausgeht, was die Staaten verhandelt haben.“ Die Welt müsse also nicht langer allein auf die Politik setzen – sie kann auch auf den Erfindergeist der Menschen bauen. Denn wenn grüne Technologien so gut werden, dass sie schon aus Gewinnstreben eingesetzt werden, ist unerheblich, was einzelne Politiker davon halten.
Rund um den Globus
Innovation findet längst nicht nur in Europa, China und den USA statt. „Die besten und günstigsten Solarfelder werden in Indien und in den Arabischen Emiraten verkauft“, sagt Frei. Auch in den ärmsten Landern der Welt, wo eine Milliarde Menschen ohne Strom lebt, sieht er Durchbrüche jenseits der Politik. Unternehmer verkaufen hier massenhaft billige Solarmodule an die ärmsten Haushalte, die damit erstmals die Vorzüge des elektrischen Stroms genießen können. Die größten Fortschritte werden aber nicht bei der Energieerzeugung benötigt, sondern in den Systemen rundherum. Die neue Energiewelt hat nämlich einen entscheidenden Nachteil: Statt einiger großer Kraftwerke erzeugt nun eine Unzahl an Minianlagen Strom. Wasserkraft mag noch beständig sein, doch Wind- und Solaranlagen richten sich nicht danach, wann Energie gebraucht wird, sondern produzieren nur dann, wenn der Wind weht oder die Sonne scheint.
Speicher ebnen den Weg
„Ohne Speicher wird die Energiewende daher nicht gelingen“, sagt der Energiemanager Wolfgang Anzengruber. Ob der Pumpspeicher in den Alpen, die Batterie im Keller oder die Elektroautos in der Garage – alles, wo überschüssiger Strom zwischengelagert werden konnte, wird gebraucht werden. Die Digitalisierung unterstütze die Entwicklung, sagt Christoph Frei. „Sie ist eine Ermächtigung der kleinen Spieler und der Nachfrage.“ Erstmals könne auch der Verbrauch gesteuert werden. Jeder Kühlschrank und jede Waschmaschine konnte theoretisch zentral ein- und ausgeschaltet werden, um das Netz in Balance zu halten und Blackouts zu verhindern.
Österreich habe aufgrund seines hohen Wasserkraftanteils beste Voraussetzungen, bei Speichern und Elektromobilität ganz vorne dabei zu sein, meint Christoph Frei. „Es kann ja nicht sein, dass ein Land Kohlekraftwerke baut und mit Elektroautos wirbt. Das wäre Betrug.“ Bisher verhinderten „der Preis der Fahrzeuge und deren Reichweite“ den erhofften E-Autoboom, gibt Wolfgang Anzengruber zu bedenken. Unter diesem Gesichtspunkt habe auch die im Vorjahr in Österreich beschlossene staatliche Prämie für den Kauf eines Elektromobils ihre Berechtigung, sagt Frei. „Immerhin finanzieren jene, die deshalb jetzt schon ein E-Auto kaufen, so die raschere Entwicklung der Speicher mit.“ Der beste Weg, um die Welt von ihrer Sucht nach billigem Öl zu heilen, sei aber ein anderer, sind sich die beiden Experten einig. „Verschmutzung muss ihren Preis haben“, sagt Anzengruber. Solange eine Tonne CO2 in der Atmosphäre nicht mehr kostet als eine halbe Pizza, biete das System „keinen Investitionsanreiz für CO2-arme Technologien.“
Christoph Frei liefert als Generalsekretär des Weltenergierats (World Energy Council) Regierungen und Unternehmen seit nunmehr acht Jahren Fakten und Analysen zum Energiesektor. Der 47-jährige Schweizer initiierte die „World Energy Leaders‘ Summits", auf denen Minister, Vorstände und internationale Organisationen nach Lösungen für die Herausforderungen der Energiewelt suchen. Frei ist zudem Titularprofessor an der Technischen Universität Lausanne.
Wolfgang Anzengruber liefert als Vorstandsvorsitzender der VERBUND AG seit acht Jahren Strom aus Wasserkraft. Vor seinem Wechsel zu Österreichs größtem Stromanbieter, der zu 51 % im Besitz der Republik steht, leitete der Wirtschaftsingenieur (TU Wien) den Kranhersteller Palfinger und war Mitglied des Vorstands der Salzburg AG. Wolfgang Anzengruber ist verheiratet und hat drei Töchter.
Quelle: flow 15, Herausgeber VERBUND, Autor Maximilian Bauer
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